“Das Haus im Kreidekreis”


Nach dem Fall der Mauer suche ich meine Heimatstadt Eisenach wieder auf, wo wir noch ein Haus haben, das uns aber anstandslos rückübertragen werden soll. Glück des Wiedersehens, der Erinnerung und der Wiedervereinigung droht umzukippen in Angst und Verzweiflung über eventuelle Unehrenhaftigkeit in meiner Familie, als ein jüdischer Vorbesitzer Anspruch auf das Haus erhebt und im Laufe der Zeit die vielfältigen Konflikte der Einheit überhandnehmen. Im Verlauf des Versuchs, diese widersprüchlichen Gefühle schreibend zu sortieren erkenne ich, wie sich jüngere Geschichte in alter widerspiegelt, sozusagen teleskophaft überlagert..

Dagmar Hirsch hat ein Erinnerungsbuch geschrieben, ein sehr persönliches, gutes Buch, wie ich finde, Bemerkenswert ist diese Reise in die eigene Vergangenheit, unternommen von einer professionellen Psychoanalytikerin, aber beschrieben mit den Mitteln der Literatur und nicht des Fachjargons, durch einen zusätzlichen Aspekt. Gerade in der Konzentration auf die eigenen Erlebnisse und Gefühle vermag Dagmar Hirsch auch uns “andere” anzusprechen. Ihre Geschichte vom Haus im Kreidekreis - eine Anspielung auf Brechts und Klabunds Parabel vom Kind zwischen widerstreitenden Interessen - berührt zugleich uns alle.Sie hat nicht nur zeitgeschichtliche Relevanz sondern vermittelt auf sehr persönliche Weise auch, wie schwierig es ist, die von Mitscherlich beklagte deutsche “Unfähigkeit zu Trauern” zu überwinden, wie anstrengend für jeden einzelnen, wirkliche “Trauerarbeit” als Prozess radikaler Selbsterkenntnis zu leisten. Nur vordergründig geht es um die Eigentumsrechte an der prächtigen Jugendstil--Villa im Eisenacher Marienthal unter der Wartburg, in der Dagmar Hirsch mitsamt ihrer Mutter, aus Berlin evakuiert, trotz des Krieges fast sorgenlos schöne Jugendjahre bei den Grosseltern erleben konnte. Was sich aus der fast rauschhaften Rückreise in die alte Heimat unversehens entwickelt, ist eine sehr persönliche Auseinandersetzung mit dem dunkelsten Abschnitt deutscher Geschichte und den damit verbundenen Emotionen.
“Das Haus im Kreidekreis” ist ein Buch, das vielleicht gerade durch die schonungslos ehrliche Auseinandersetzung mit sich selbst und der eigenen Familie zum bewegenden und auch beeindruckenden Dokument unseren jüngeren Zeitgeschichte wird. Dagmar Hirsch verbindet die dreissiger und vierziger Jahre mit der unmittelbaren Gegenwart ohne grosse Kunstgriffe. Ihre einfache und schlichte Erzählweise wirkt eindringlich und überzeugend, und zwar umso stärker, je weiter und tiefer sie vom Allgemeinen ins Persönliche vordringt, von der Oberfläche der Ereignisse und Abläufe in die Tiefen und Untiefen menschlichen Verhaltens und Empfindens.

Wolfgang Seifert im WDR 19.4.1995

 

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